Zur Geschichte der Soziologie an der Universität Stuttgart
Unter den alten Universitäten gehört die Universität Stuttgart - sie wurde im Jahre 1876 als Technische Hochschule gegründet - zu den letzten, die einen Lehrstuhl für Soziologie einrichten. Im Jahre 1969 wird Prof. Dr. Rolf E. Vente zum Ordinarius für Soziologie berufen. Er baut eine Abteilung für Sozialplanung innerhalb des Instituts für Sozialforschung auf und integriert das Lehrfach "Soziologie" in mehrere, bereits bestehende Studiengänge der Universität Stuttgart. Auf einen eigenen Hauptfachstudiengang für Soziologie wird damals ganz bewusst verzichtet. Soziologische Forschung und Lehre wird als "sozialwissenschaftliche Dienstleistung" für die Ausbildung in anderen Studienfächern verstanden.
Die Tradition einer auf fachliche Integration ausgerichteten "Stuttgarter Soziologie" wird von Prof. Dr. Günter Endruweit fortgesetzt, der die Nachfolge von Rolf E. Vente antritt. Mit einer äußerst knapp bemessenen personellen Ausstattung gelingt es unter seiner Leitung, die Institutsabteilung "Soziologie und Sozialplanung" weiter auszubauen und zu festigen. Soziologische Lehre und Forschung wird als Serviceleistung für verschiedenste geistes- und ingenieurwissenschaftliche Studiengänge angeboten. Dieses Modell eines Soziologieangebots als zusätzliches Ausbildungsmodul für andere Studiengänge ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass es die Lehre im Hauptstudium auf vier anwendungsorientierte, spezielle soziologische Forschungsrichtungen konzentriert. Dazu gehören die Entwicklungs-, Gemeinde-, Industrie- und Organisationssoziologie.
Prof. Endruweit wechselt an die Universität Kiel und Dr. Dieter Urban (ehemals: Universität Duisburg-Essen) wird als sein Nachfolger an die Universität Stuttgart berufen. Mit der Berufung von Prof. Dr. Urban verändern sich Form und Inhalte der soziologischen Lehre und Forschung an der Universität Stuttgart. Die Stuttgarter Soziologie wird schrittweise zu einem eigenständigen und vollwertigen Magister-Lehrfach entwickelt, das sich auch inhaltlich an den Standards einer professionell ausgerichteten, soziologischen Lehre und Forschung orientiert. Diese Neukonzeption kann deshalb verwirklicht werden, weil es in Folge der Berufung von Prof. Urban gelingt, zwei neue Professuren für Soziologie an der Universität einzurichten (s.u.).
In Kooperation mit der neu entstandenen Akademie für Technikfolgenbewertung des Landes Baden-Würt-temberg wird der Lehrstuhl für Technik- und Umweltsoziologie eingerichtet und mit Prof. Dr. Ortwin Renn besetzt. Im Jahre 1996 wird nach dem gleichen Kooperationsmodell der Lehrstuhl für Arbeits- und Organisationssoziologie neu gegründet, auf den Prof. Dr. Hans-Joachim Braczyk berufen wird. Mit den drei in Stuttgart lehrenden Soziologie-Universitätsprofessoren, einem Honorarprofessor (Prof. Dr. Albrecht Ungerer) sowie insgesamt sechs wissenschaftlichen Mitarbeitern und mehreren ständigen Lehrbeauftragten kann der Soziologie in Stuttgart eine inhaltlich und organisatorisch neue Ausrichtung gegeben werden. Dieses "Stuttgarter Modell der Soziologie" ist insbesondere durch vier Merkmale gekennzeichnet:
- Konzentration der Lehre auf die drei Lehr- und Forschungsbereiche: empirische Sozialstrukturanalyse, Technik- und Umweltsoziologie sowie Arbeits- und Organisationssoziologie.
- Intensive Ausbildung im Bereich der quantitativ verfahrenden Methoden der empirischen Sozialforschung (incl. Forschungsmethodik, Statistik, EDV, Projektseminare).
- Verknüpfung von soziologischen Lehrinhalten mit technik- und ingenieurwissenschaftlich relevanten Frage- stellungen
- Enge Verzahnung von soziologischen Lehrinhalten und Forschungsaktivitäten (u.a. in Form von Forschungs- und Projektseminaren).
Die drei Abteilungen für Soziologie werden mit dem Stuttgarter Institut für Politikwissenschaft zu einem neuen Forschungsinstitut zusammengeschlossen. Es wird das "Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart" (SOWI) gegründet, in dem die soziologische Lehre und Forschung in drei eigenen Abteilungen für Soziologie organisiert und koordiniert wird. Größere Forschungsprojekte, die am Institut durchgeführt werden, analysieren u.a. den Wandel von sozialen Beziehungen und Einstellungen während der gesellschaftlichen Transformationsprozesse in Ostdeutschland (Prof. Urban), untersuchen neue Formen der Bürgerbeteiligung bei der Implementation von neuen Umwelttechnologien (Prof. Renn) und erkunden die regionalen Optionen für neue Innovationsregime in Baden-Württemberg (Prof. Braczyk). Die Ergebnisse der soziologischen Forschung aus Stuttgart werden in drei selbständigen Veröffentlichungsreihen publiziert (SISS - Schriftenreihe des Instituts für Sozialwissen-schaften, Stuttgart; SPS - Stuttgarter Beiträge zur Politik- und Sozialforschung; Stuttgarter Beiträge zur Risiko- und Nachhaltigkeitsforschung).
Es wird der deutsch-französische Diplom-Studiengang "Sozialwissenschaften" eingerichtet. Dieser internationale Studiengang wird gemeinsam von allen Stuttgarter Abteilungen für Soziologie und Politikwissenschaft in Kooperation mit dem l`Institut d'Etudes Politique de Bordeaux (IEP Bordeaux) angeboten. Er wird von deutschen und französischen Studierenden bei jährlichem Ortswechsel sowohl in Stuttgart als auch in Bordeaux studiert.
In diesem Jahr verstirbt Prof. Dr. Hans-Joachim Braczyk. Die Vertretung seines Lehrstuhls übernimmt Frau Privat-Dozentin Dr. Birgit Blättel-Mink. Im Frühjahr 2004 wird die Finanzierung der Vertretungsstelle eingestellt. Gleichzeitig beschließt das Wissenschaftsministerium, die Professur für Organisations- und Arbeitssoziologie einzusparen, so dass die entsprechende Abteilung am Institut für Sozialwissenschaften geschlossen werden muss. Jedoch kann der Lehrstuhl für Umwelt- und Techniksoziologie (besetzt mit Prof. Renn), der im Zuge der Schließung der Akademie für Technikfolgenbewertung ebenfalls gefährdet war, erhalten bleiben. Er wird mit einer kompletten Ausstattung am Institut für Sozialwissenschaften als eigenständige Abteilung angesiedelt.
Im Wintersemester 2003/2004 beginnt an der Universität Stuttgart die Umstellung aller Studiengänge auf das angelsächsisch-orientierte Bachelor/Master-Modell. Das Institut für Sozialwissenschaften bietet dementsprechend ab dem WS 2003/04 einen sechs-semestrigen Bachelorstudiengang "Sozialwissenschaften" an, der aus-gewählte Lehrinhalte aus Politikwissenschaft, Soziologie, sozialwissenschaftlicher Methodenlehre umfasst. Dieser Studiengang ist interdisziplinär-sozialwissenschaftlich mit starken praxis-orientierten Anteilen ausgerichtet, wobei die praxis-orientierten Inhalte sowohl fachwissenschaftliche Komponenten (z.B. starke Methodenorientierung mit einer obligatorischen Statistik- und EDV-Ausbildung) als auch berufsrelevante, extrafunktionale Fertigkeiten (u.a. Kommunikations- und Präsentationstechniken) betrifft. In der Folge dieser Restrukturierung werden an der Universität Stuttgart die "alten" Magisterstudiengänge im Wintersemester 2005/06 für Studienanfänger komplett geschlossen und können nur noch von Magister-Studierenden in höheren Fachsemestern bis zum Magister-Examen fortgeführt werden.
Im Wintersemester 2006/07 eröffnet das Institut für Sozialwissenschaften einen neuen, 4-semestrigen Master-Studiengang. Der Masterstudiengang "Empirische Politik- und Sozialforschung" bietet deutschen und ausländischen Absolventen sozialwissenschaftlicher Bachelor-Studiengänge eine einzigartige Chance für einen integrierten deutschsprachigen Studiengang in Soziologie und Politikwissenschaft mit einer forschungsgeleiteten Orientierung und einem Schwerpunkt auf theoriegeleiteter Empirie. Der Studiengang ist einerseits an den internationalen Standards für sozialwissenschaftliche Ausbildungsgänge angelehnt, andererseits aber auch auf die besonderen Bedürfnisse einer sozialwissenschaftlich geprägten Berufspraxis ausgelegt. Neben theoretischen und methodischen Grundkenntnissen vermittelt der Studiengang auch kommunikative und praxisorientierte Kompetenzen.
Die Institutsabteilung „Soziologie und empirische Sozialforschung“ (Lehrstuhl Prof. Dr. Dieter Urban) wird aus dem Hochhaus KII (Kronenstr.) in das Gebäude „Seidenstr. 36“ auf dem ehemaligen Boschareal umgesiedelt. Dort sollen alle Soziologie-Abteilungen räumlich konzentriert werden.
Es werden ein neuer Lehrstuhl und eine neue Institutsabteilung für “Organisationssoziologie und Innovationssoziologie” eingerichtet. Der Lehrstuhl wird mit Prof. Dr. Ulrich Dolata besetzt. Damit wird das Lehrfach “Soziologie” an der Universität Stuttgart wieder mit drei Lehrstühlen unterrichtet.
Im Wintersemester 2013/14 startet der neue, zusätzliche Masterstudiengang “Planung und Partizipation” (M.Sc.). Die Kooperation von sechs Instituten aus drei Fakultäten der Universität Stuttgart ermöglicht die Vernetzung von unterschiedlichen Fachkenntnissen aus Planungs-, Sozial-, Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie der Rechtswissenschaft. Die Absolventen dieses Studienganges sollen als transdisziplinär ausgebildete Experten ein breites Betätigungsfeld in der kommunalen Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik finden.
Der Leiter der Institutsabteilung “Umwelt- und Techniksoziologie” und Inhaber des gleichnamigen Lehrstuhls Prof. Dr. Ortwin Renn wird zum neuen wissenschaftlichen Direktor des IASS-Institute for Advanced Sustainability Studies e.v., Potsdam, ernannt. Er behält seine Professur an der Universität Stuttgart und bietet dort auch weiterhin Lehrveranstaltungen im Bereich von Technik- und Umweltsoziologie an. Auf den Lehrstuhl für Technik- und Umweltsoziologie wird Prof. Dr. Cordula Kropp (ehemals: Hochschule für Angewandte Wissenschaften, München) berufen.
Es wird eine neue Abteilung zu “Computational Social Science" eingerichtet. Die Abteilungsleitung übernimmt Tenure-Track Prof. Dr. Raphael Heiberger. SoWi VII widmet sich der Verbindung von Sozial- und Computerwissenschaften. Das Ziel ist es ein noch tieferes Verständnis sozialer Phänomene (z.B. wirtschaftliche Ungleichheit, politische Einstellungen oder Karriereerfolg) durch die Nutzung digitaler Datenquellen sowie der Anwendung moderner Methoden (z.B. Natural Language Processing oder Netzwerkanalyse) zu erreichen.
Die Abteilung Soziologie und empirische Sozialforschung (SoWi IV) wird nach Emeritierung von Prof. Dr. Dieter Urban von Prof. Dr. Susanne Vogl (Universität Wien) übernommen. Die neue Denomination lautet "Soziologie mit dem Schwerpunkt quantitative und qualitative sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden".