Auszug aus dem Elternhaus, ausbildungs- und berufsbedingte Umzüge, Partnerschaften usw. prägen die Lebensphase junger Erwachsene zwischen 18 und etwa 25 Jahre wie keine andere – auch die Abwanderung aus ländlichen Regionen. Es stellt sich dementsprechend die Frage, welche Faktoren Wohnentscheidungen beeinflussen. Was motiviert junge Erwachsene wegzuziehen oder zu bleiben? Was erwarten sie vom Wegzug und welche Erfahrung machen sie in einer neuen Wohnregion? Wann oder unter welchen Umständen würden sie zurückkommen oder kommen sie zurück? Was sind eher „Pull“- und was eher „Push“-Faktoren?
Im Rahmen des Forschungsprojekts wurde daher die Fragen in den Fokus gerückt, welche Faktoren Wohnortentscheidungen junger Erwachsener in ländlichen Räumen Baden-Württembergs beeinflussen, welche Orientierungsmuster sich bei Wohnortentscheidungen zeigen und welche Handlungsempfehlungen sich daraus für eine Erhöhung der Standortattraktivität ländlicher Räume Baden-Württembergs ergeben. Dazu wurden zwischen September 2023 und Sommer 2024 acht Gruppendiskussionen mit insgesamt 56 jungen Erwachsenen an unterschiedlichen baden-württembergischen Orten geführt sowie drei Stakeholder-Workshops durchgeführt.
Welche Faktoren beeinflussen Wohnortentscheidungen?
In den Gruppendiskussionen mit jungen Erwachsenen haben wir eine Wertschätzung für ländliche Räume Baden-Württembergs sowie eine große Bereitschaft festgestellt, auch lange Pendelstrecken in Kauf zu nehmen, um der Wunschausbildung nachgehen und trotzdem vor Ort in den ländlichen Räumen bleiben zu können. Ob dies langfristig praktisch umsetzbar ist, hängt jedoch insbesondere von zwei Faktoren ab: einer adäquaten (Verkehrs-)Infrastruktur und leistbarem sowie bedarfsorientiertem Wohnraum. Generell haben neben Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten vor allem auch soziale Beziehungen (z.B. zu Freundinnen und Freund, Familie und Partnerschaft) zentralen Einfluss auf Wohnortentscheidungen junger Erwachsener. Eine Integrationswirkung entfalten zudem Ehrenamt und Vereinsleben, genauso wie kulturelle Veranstaltungen. Das soziale Klima in ländlichen Räumen wird von jungen Erwachsenen ambivalent bewertet: Die gewachsenen und stabilen Dorfgemeinschaften vermitteln ihnen ein Gefühl der Geborgenheit, produzieren teils aber auch eine mangelnde Offenheit gegenüber abweichenden Meinungen und Zugezogenen.
Wer entscheidet wie?
Auf Basis der Gruppendiskussionen mit jungen Erwachsenen wurde zudem deutlich, dass sich Wohnortentscheidungen in die Kategorien „Bleiben“, „Zwischen Bleiben und Gehen“ sowie „Rückkehren“ einordnen lassen. Dabei resultiert die Einordnung durch ein Zusammenspiel dreier Dimensionen: (1) die emotionale und soziale Eingebundenheit am Ort, (2) welche Faktoren in der aktuellen Situation für die Wohnortentscheidung relevant sind und (3) wie die vorgefundenen Begebenheiten am Ort bewertet werden. Dieses unterschiedliche Zusammenspiel dieser Dimensionen lassen sich in folgenden sechs Typen beschreiben:
- Typ 1: Selbstverständlich Bleibende fühlen sich vor Ort wohl und es versteht sich für sie von selbst, auch dort zu bleiben. Der noch anstehende Schul- oder Ausbildungsabschluss etwa könnte aber dazu führen, dass sich Prioritäten bzw. Notwendigkeiten verschieben und es zum Wegzug kommt.
- Typ 2: Intentional Bleibende haben sich bewusst für eine Zukunft am Ort entschieden und dabei auch mögliche Nachteile abgewogen. Ihre familiären und sozialen Ressourcen am Ort verstärken nicht nur die Entscheidung, sondern dürften auch die praktische Umsetzung erleichtern.
- Typ 3: Für unfreiwillig Bleibende mit Wegzugsorientierung ist ein Umzug aufgrund formaler Restriktionen oder prekärer Umstände momentan ausgeschlossen. Auch wenn der Ort eher kritisch gesehen wird und es an sozialem Anschluss fehlt, wird die Situation aber meist akzeptiert.
- Typ 4: Verdienst- und statusorientierte, traditionelle (Verbunden-)Bleibende fühlen sich zwar eng mit der Heimat verbunden, sind jedoch nicht bereit, karrierebezogene Einschränkungen in Kauf zu nehmen. (Bessere) berufliche Entwicklungschancen an einem anderen Ort, auch im Ausland, könnten also zum Wegzug führen.
- Typ 5: Zwischen den Welten Wandelnde wohnen aufgrund von Ausbildung bzw. Studium woanders, kehren aber regelmäßig an den Ort zurück. Dadurch verbinden sie ganz bewusst die Vorzüge des Urbanen mit dem Ländlichen. Wohin es sie langfristig verschlägt, ist noch offen.
- Typ 6: Die heimatverbundenen Rückkehrenden sind nach einer Phase des Entdeckens voller Überzeugung an den Ort zurückgezogen. Treiber waren die starke Heimatverbundenheit und die hohe Wertschätzung für das ländliche Leben.
Welche Potenziale gibt es?
Die Faktoren aus den Diskussionen mit jungen Erwachsenen wurden abschließend verschiedensten Vertreterinnen und Vertretern aus der Praxis vorgestellt und darauf aufbauend gemeinsam Ansätze zur Erhöhung der Standortattraktivität erarbeitet. Insbesondere bei den Faktoren Wohnraum und Mobilität wird deutlich, dass Kommunen die Zielgruppe der jungen Erwachsenen mit ihren spezifischen Bedürfnissen und Möglichkeiten stärker in den Blick nehmen sollten, um Abwanderungstendenzen abzumildern. Notwendig wäre eine entsprechende Kooperation zwischen institutionellen Akteuren, um verzahnte Maßnahmen initiieren und implementieren zu können. Die vorhandene Expertise zur Zielgruppe besteht über verschiedene Bereiche der Wirtschaft, Politik und Verwaltung, Bildung und Ehrenamt sowie Jugendarbeit verteilt und oftmals isoliert voneinander.
Die Heterogenität ländlicher Räume in Baden-Württemberg wird aber im Hinblick auf Herausforderungen und Lösungen deutlich; es bedarf lokalspezifisch attraktiver Rahmenbedingungen für ein Wohnen und Leben junger Erwachsener in ländlichen Räumen. Dabei sind attraktive Rahmenbedingungen notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dafür, dass junge Erwachsene in ländlichen Räumen bleiben bzw. dorthin zurückkehren. Junge Erwachsene in ländlichen Räumen Baden-Württembergs zeigen sich durchaus interessiert daran, auch in Zukunft in ihrer Heimatregion zu leben und zu arbeiten. Dafür müsste ihnen jedoch mehr Gehör geschenkt werden, um Abwanderung zu verhindern oder die Rückkehrwahrscheinlichkeit zu erhöhen.
Projektteam (alphabetisch):
Tabea Freutel-Funke, Antonia Krahl, Marie-Theres Pooch, Anna Roßmann, Anna Irini Tsipouras
Projektleitung:
Prof. Dr. Susanne Vogl, Abteilung für Soziologie und sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden
Projektlaufzeit:
Februar 2023 bis März 2025
Fördergeber:
Ministerium für Ernährung, Ländlicher Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg
Die Studie sowie eine zusammenfassende Broschüre sind hier abrufbar:
Kontakt:

Susanne Vogl
Prof. Dr.Leitung Sowi IV
Stellvertretende Direktorin Gesamtinstitut